Deutsche Meinung zu Stimmen aus Russland (3)


Dagmar Henn hat in ihrem Artikel vom 22. September einen Blick voraus gewagt. Er war, wie die meisten ihrer Artikel, recht interessant, auch wenn ich hier und da nicht mitgehe und einiges auch zu bemängeln habe:

https://de.rt.com/europa/149544-nach-russischen-teilmobilmachung-westen-bleiben/

Ein wesentlicher Anker ihrer Ausführung scheint mir das Treffen der Schanghaier Organisation zur Zusammenarbeit (SOZ) in Samarkand zu sein. Man gewinnt den Eindruck, dass dies ein Geheimtreffen gewesen sei, denn sie wusste nicht zu sagen, ob die geplanten Referenden in den ukrainischen Regionen, die ein zweiter Anker des Artikels sind, dort Gesprächsthema waren oder nicht. Sie schrieb: „… dürften dort ebenso besprochen worden sein …“ Und die Gewissheit darüber, ob es nun so war oder nicht, wünscht man sich als Leser deshalb, weil nach Henns Worten die unausgesprochene oder vorzugsweise natürlich ausgesprochene Billigung des aktuellen russischen Handelns – im Wesentlichen die Durchführung dieser Referenden und die Teilmobilmachung – durch alle übrigen Teilnehmer des Treffens für Russland wichtig ist. Sie schreibt: „… und der Schritt, der jetzt vollzogen wurde, beruht darauf, dass diese Partner die Legitimität des russischen Vorgehens akzeptieren.“

Mit Verlaub, Frau Henn, ich bezweifle das. Russland handelt nach seiner ganz eigenen Risikoanalyse. Wenn es eine Situation als gefährlich einschätzt, dann wird es Maßnahmen ergreifen, die es für geeignet hält, die Gefahr auszuräumen, und es wird dafür keine Rolle spielen, was andere Nationen davon halten. Es wird den Handelnden freilich ein besseres Gefühl bereiten, wenn sie den Eindruck haben, mit ihrem Handeln nicht isoliert zu sein, jedenfalls nicht vollkommen isoliert. Aber das dürfte dann auch schon den ganzen Unterschied ausmachen.

Henn schreibt unter Bezug auf ungenannte Kommentatoren, „… China und Indien seien weiterhin zurückhaltend, weil das Thema einer Sezession für sie zu heikel ist, und sie die Referenden in den vier Gebieten für eine Sezession halten.“ Aber hallo! Natürlich sind das Sezessionen! Ich glaube, dieser Begriff war bei der Abspaltung der Krim zumindest in Russland durchaus Usus. Kosovo von Serbien, Krim von der Ukraine, Schottland von Großbritannien, Taiwan von China, Tschetschenien von Russland… – erfolgreich oder auch nicht.

Die „Mutterländer“ solcher Initiativen sehen das meist nicht so gern und berufen sich dabei auf das Völkerrecht und die Unverletzlichkeit der Grenzen usw. Und sie haben Recht damit. Es kann niemand von einem Land verlangen, dass es Territorien und damit auch Einflussgebiete ohne Widerstand gehen lässt. Nur ist die Frage, was geeignet und zugleich machbar ist, einem abtrünnigen Territorium den Verbleib im Mutterland schmackhaft zu machen, ohne dass andere Territorien desselben Landes sich dadurch benachteiligt sehen oder gar auf ähnliche Gedanken verfallen. Denn eine Alternative zum Werben gibt es nicht. Methoden, wie sie etwa die Ukraine gegenüber dem Donbass anwendet, also der Aufmarsch des Militärs und der Angriff unter anderem auch ziviler Ziele, werden vielleicht eine Unterwerfung erreichen, jedoch keine Integrität. Aber wenn ein Land nach dem Verständnis eines Teils der Bevölkerung unterschiedliche Ethnien beheimatet und eine dieser Ethnien für unerwünscht erklärt, kann dem erstgenannten Teil der Bevölkerung eine Unterwerfung durchaus passabel erscheinen. Oder eine Vertreibung der unerwünschten Ethnie. Oder gar deren Vernichtung. Das wäre alles nichts Neues in der menschlichen Geschichte.

Dann jedoch bringt Henn eine interessante Parallele, die mich ein Stück weit zurückrudern lässt, was mein Statement zur Sezession angeht. Sie schreibt: „Es ist aber durchaus eine andere Sicht möglich, die zumindest in der chinesischen Geschichte mit Tibet eine Parallele hätte.“ Und dazu führt sie folgendes aus: „Tibet war jahrhundertelang Teil des chinesischen Reiches; in den 1920ern wurde es durch britische Kolonialtruppen von China abgetrennt und die – ebenfalls seit Jahrhunderten – dort lebende chinesischstämmige Bevölkerung wurde vertrieben (…). Das war eine, mit fremder Hilfe oder im fremden Interesse, durchgeführte Sezession, die durch die chinesische Volksbefreiungsarmee wieder rückgängig gemacht wurde, was übrigens für die Mehrheit der tibetischen Bevölkerung die Befreiung aus der Leibeigenschaft bedeutete.“

Hoppla! Das war mir ja neu. Und ich musste in der (deutschen) Wikipedia auch ein bisschen suchen, um Passagen zu finden, die das bestätigen. So steht in der „Geschichte Chinas“: „Die Mandschu gründeten nach dem Sturz der Ming-Dynastie 1644 die letzte chinesische Dynastie. Bis Ende des Jahrhunderts hatten sie ihre Macht im ganzen Territorium, das die Ming beherrscht hatten, konsolidiert und mit erheblichem Aufwand um Xinjiang, Tibet und die Mongolei erweitert.“ Im Artikel „Tibet“ liest sich das dagegen etwas anders. Dort wird Tibet als mandschurisches Protektorat bezeichnet; im 19. Jahrhundert hätten die Menschen in einem feudalen System unter den Lamas gelebt. Daran hatte der britische Einmarsch offenbar nichts geändert.

Also, wenn man den geschichtlichen Bogen nur bis zum richtigen Zeitpunkt zurückspannt – in diesem Fall also bis in die Mandschu-Dynastie –, wird man häufig Konstellationen finden, an die man „anknüpfen“ kann, zu denen man „restaurieren“ kann. Ginge man im Falle Tibets „zu weit“ zurück, wäre Tibet noch kein Teil Chinas; dann wäre die Besetzung Tibets in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts lediglich eine zweite Okkupation. Nun ja.

Bezugnehmend auf diese Parallele schreibt Henn nun über die Sowjetunion:

„Die Auflösung der Sowjetunion, die auf dem berüchtigten Dreiertreffen beschlossen wurde, war nicht nur ein Putsch, weil sie gegen die geltende Verfassung verstieß, sie ignorierte auch ein abgehaltenes Referendum. Die Entstehung des Staates Ukraine, die in sich nicht durch ein weiteres Referendum bestätigt wurde, aber bedeutende Bevölkerungsgruppen mit einschloss, die mit hoher Mehrheit für den Weiterbestand der Sowjetunion gestimmt hatten, war also selbst ein Akt einer illegitimen Sezession. Wenn man von dieser Sicht ausgeht, wäre die Wiedereingliederung zumindest jener Teile der Ukraine, die damals entsprechend abgestimmt hatten, eine Aufhebung eines unrechtmäßigen Zustands.“

Damit setzt sie einige Vorkenntnisse voraus, die wohl insbesondere im Westen nicht als selbstverständlich angesehen werden können. Das „berüchtigte Dreiertreffen“ war ein Treffen von Boris Jelzin (russische Sowjetrepublik), Leonid Krawtschuk (ukrainische Sowjetrepublik) und Stanislaw Schuschkewitsch (weißrussische Sowjetrepublik). Es fand am 7. Dezember 1991 in Weißrussland statt. Die drei Herren beschlossen dort das Ende der UdSSR – wie drei Fürsten, völlig undemokratisch. Ob der Begriff Putsch dafür angemessen ist, möchte ich dahingestellt sein lassen, denn weder war das Militär involviert noch wurde sonst irgendwie Gewalt angewendet – zu diesem Zeitpunkt! Bemerkenswert ist jedoch das ebenfalls von Henn nur kurz erwähnte Referendum, das am 17. März desselben Jahres stattgefunden hatte und in dem folgende Frage gestellt wurde:

Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken zu erhalten, wo Menschen aller Nationalitäten Rechte und Freiheiten garantiert werden?

76,4 Prozent der Bürger der UdSSR stimmten damals mit „ja“. Eigentlich eine klare Sache, nachkarteln unangemessen. Nun, die drei Herren haben nicht nachgekartelt; die haben das Referendum einfach vom Tisch gewischt. Die Ukrainer haben ein weiteres Referendum über ihre staatliche Unabhängigkeit durchgeführt, interessanterweise bereits eine Woche vor dem „berüchtigten Dreiertreffen“ und das ging deutlich zugunsten der Eigenstaatlichkeit der Ukraine aus. Wie man innerhalb eines dreiviertel Jahres die Stimmung so drehen kann!

Henn argumentiert: Das Referendum vom 17. März 1991 gilt, und alles danach war ein Putsch, also unrechtmäßig. Was jetzt stattfindet, sei lediglich die partielle Wiedereinsetzung des Rechts. Partiell, weil die Referenden ja nur einen kleinen Teil der Ukraine betreffen. Und so ganz wird der ursprüngliche Zustand ja auch in einem anderen Punkt nicht restauriert: Die heutige „Sowjetunion“ besteht bislang nur aus Russland und der Krim. Und die geplanten Beitritte des Donbass und der zwei anderen separatistischen Regionen erfolgen auch nicht als eigene Körperschaften neben Russland zu einem größeren Ganzen, sondern zu Russland. Möglicherweise werden diese Regionen den gleichen Status erhalten, wie ihn z.B. Tschetschenien hat; Russland ist ja kein homogenes Ganzes, sondern eine Föderation. Aber das werden wohl Details sein, die in ihren rechtlichen und Durchführungsdetails für die abstimmenden und für die Sezession (und damit implizit oder sogar ausdrücklich auch für den Beitritt zu Russland – zu den Fragen, über die bei den Referenden abgestimmt werden soll, habe ich allerdings bislang nichts gefunden) votierenden Menschen nebensächlich sind.

Was nun allerdings an dem ukrainischen Referendum von 1991 illegitim gewesen sein soll, hat sie nicht erklärt. Was genau macht ein Referendum illegitim?

Henn fragt: „Denn welche Art der Entscheidung wäre demokratischer als ein Volksentscheid?“ und weist zu Recht darauf hin, dass die EU keine derartige Legitimation habe: „Weder der Anschluss der DDR noch die Einführung des Lissabon-Vertrags wurde auf dieser Ebene zur Entscheidung gestellt; beide haben daher eine wesentlich schwächere Legitimität, als es ein Beitritt dieser Regionen zur Russischen Föderation haben könnte.“ Und von partizipativer Demokratie, also davon, was Demokratie eigentlich ist, kann ja nun in Deutschland auch keine Rede sein. Volksbegehren auf Bundesebene? Fehlanzeige. Trotz schon vor vielen Jahren in Umfragen erhobener überwältigender Mehrheiten für einen solchen Wunsch. Aber wo kämen wir denn hin, wenn in einer Demokratie Volkes Wille zählte? Das hatte schon das Politbüro der SED sehr richtig erkannt.

Weiter schreibt Henn: „Der zeitliche Ablauf, der aus den gestrigen und heutigen Entscheidungen folgt, ist ziemlich klar. Bis zum 27. September werden die Referenden durchgeführt …; fünf Tage zum Auszählen; dann werden formell entsprechende Anträge zur Aufnahme in die Russische Föderation eingehen.“ Also, ich hege wenig Zweifel, dass das so kommen wird und Henn offenbar ebenfalls nicht. Aber war da nicht noch was? Sollte der „dann“-Teilsatz nicht konditioniert sein: „Im Falle einer mehrheitlichen Zustimmung …“? Ein Plan B existiert offenbar nicht. Nun gut, bei Volkskammerwahlen gab’s den ja auch nicht.

Sie skizziert den erwarteten Ablauf: „Von den Abstimmungen über die Annahme bis zur Unterzeichnung des Beschlusses durch den Präsidenten dürfte es sehr schnell gehen. Dann würde die Aufnahme in die Russische Föderation (der historische Humor ist sicher beabsichtigt) aller Wahrscheinlichkeit nach auf Montag, den 3. Oktober fallen.“ Ja, da dürfte in Moskau der eine oder andere kichern, wenn’s so kommen sollte.

Henn: „Aber zurück zur Entwicklung, die aus diesen Entscheidungen resultiert. Die Warnungen lauteten immer, wenn Angriffe auf russisches Territorium mit westlichen Waffen und unter westlichem Kommando erfolgten, dann würden die wirklichen Auftraggeber zum Ziel. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Bundeskanzleramt am nächsten Morgen einen Besuch von Herrn Kinschal erhält, aber es bedeutet, dass all jene westliche Staaten, die die ukrainischen Truppen dabei unterstützen, das dann als russisch definierte Gebiet besetzt zu halten, direkte Beteiligte werden. Und dass alle Handlungen, die darauf abzielen, die Besetzung dieses Gebiets zu beenden, Verteidigungshandlungen sind.“

„Herr Kinschal“ ist die Ch-47M2 Kinschal, eine Rakete mit einer Marschgeschwindigkeit von bis zu 12000 km/h, die aufgrund eben dieser als nicht abfangbar gilt.

Ja, diese Warnungen. Sie sind aus meiner Sicht zwar schon ernst zu nehmen, aber es hat in der Vergangenheit durchaus bereits Angriffe der Ukraine auf russisches Territorium gegeben, bei denen Sach- und Personenschäden auftraten, es wohl auch Todesopfer gab, soweit ich mich erinnere. Das war im Sinne der von Henn wiedergegebenen Warnungen eine Übertretung roter Linien, ohne dass dafür „Herr Kinschal“ auch nur Kiew „besucht“ hätte. Ich nehme an, Moskau wollte sich ersparen, ein paar Regierungsgebäude in Schutt und Asche zu legen, die ukrainische Kommandostruktur damit jedoch nicht lahmgelegt zu haben, denn wie kurz auch die Warnzeiten bei einer solchen Rakete sein mögen: Wenn sie keinen nuklearen Gefechtskopf trägt, genügt eine Minute, um einen Keller zu erreichen, den sie nicht zerstören kann. Und „gewollt, aber nicht gekonnt“ wäre im Zusammenhang mit einer solchen Superwaffe keine wirklich befriedigende Schlagzeile für die Russen.

Auch bei anderen „roten Linien“ hat sich gezeigt, dass die Russen ihr Überschreiten durch die NATO-dirigierten Kräfte letztlich toleriert haben. Hier ebenfalls: „Das so ersehnte LNG wird in Tankern transportiert, die, sollte Russland nach Abschluss der jetzt angekündigten Schritte zu dem Schluss kommen, die EU als Kriegsbeteiligte zu werten, ein legitimes militärisches Ziel darstellen.“ Das mag schon sein, aber Putin und Lawrow haben die EU bereits als Kriegsbeteiligte gewertet. Sogar der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat ja große Vorbehalte gegenüber der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und der Ausbildung von Ukrainern an westlichen Systemen im Hinblick auf die Frage geäußert, ob Deutschland dadurch zur Kriegspartei würde. Genauso wissen die Russen aber, dass Angriffe auf NATO-Länder oder deren Eigentum einen erheblichen Eskalationsschritt darstellen. Sie mögen sich im Recht fühlen, diesen Schritt zu tun, aber sie sind klug genug zu wissen, dass er nicht unbeantwortet bleiben wird, und welcher Art diese Antwort sein wird, ist schwer vorauszusehen.

Interessant ein Hinweis ziemlich am Ende ihres Artikels: „Das chinesische Signal ist die Ergänzung zu der Tatsache, dass der gestrige Anruf Macrons in Moskau nicht mehr angenommen wurde.“ Sie deutet diese Nachricht so, dass künftig keine Telefondiplomatie mit Moskau mehr stattfinden werde, stattdessen alles auf offener Bühne kommuniziert werden müsse. Nun, wir werden sehen. Mich würde es wundern, wenn Lawrow sich derart kastrieren ließe.

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Zu Stimmen aus Russland (2)


Thomas Röper hat dankenswerterweise wieder mal einen russischen Fernsehbeitrag übersetzt. (Ich habe vorgestern mit der örtlichen Volkshochschule wegen eines Russisch-Kurses telefoniert. Mir wurde mitgeteilt, dass eine Anmeldung nicht notwendig sei; ich könne einfach am ersten Tag vorbeikommen und dann selbst einschätzen, ob das Kursniveau für mich das richtige sei. Ob der Kurs dann einen zweiten Tag erleben werde, hänge von der Teilnehmerzahl sei, das Interesse habe jedoch stark nachgelassen. So lange – und ohnehin bis auf Weiteres – bin ich also auf Hrn. Röpers Dienste angewiesen. Aber ich muss auch sagen, dass die von ihm verlinkten Sendungen zeitlich häufig erheblich länger sind, als ich für das Lesen seiner Übersetzung benötige. Seine Seite ist insofern auch mit Russischkenntnissen ein Gewinn.)

In seiner Übersetzung heißt es u.a.:

Erinnern Sie sich an den EU-Kommissar für Energie mit dem klangvollen Nachnamen Piebalgs? Andris Piebalgs aus Lettland. Er war es, der die EU davon überzeugte, zum Börsenhandel von Gas überzugehen, also Gas nicht über langfristige Verträge mit Russland zu kaufen, sondern je nach Situation an der Börse. … Übrigens, hier ist eines seiner Zitate, wirklich eine Eins-Plus: „Gas ist zu wertvoll geworden, um einfach zur Stromerzeugung verbrannt zu werden. Die Alternative zum Gas ist der Strom selbst.“

Wahrscheinlich sind viele lettische Namen in den Ohren des russischen Schreibers/Sprechers klangvoll. Das ist einfach eine ziemlich fremde Sprache. So wie Ungarisch oder Finnisch für einen Deutschen. Aber „klangvoll“ ist ja erst mal keine schlechte Wertung – auch wenn sich das in meinen Ohren anhört wie mit einer Prise Ironie gewürzt. Ich mache so was auch gern.

Eigentlich ist es wurscht, was Andris Piebalgs zum europäischen Gashandel beizutragen hatte; er hat es niemandem oktroyieren können, sondern es hat einen wie auch immer gearteten, jedenfalls nicht lettisch dominierten Beschluss dazu gegeben; das schreibt der Autor auch selbst.

Die Geschichte mit dem Börsenhandel kann ich nicht hinreichend bewerten. Einerseits sind langfristige Verträge, wie sie Russland anstrebt und wie sie jahrzehntelang auch von deutschen und anderen europäischen Importeuren akzeptiert wurden, eine Preisgarantie, jedenfalls über die vereinbarte – lange – Lieferfrist. Damit kann man planen. Und beide Seiten müssen planen – die russische bei ihren Explorationen, die westliche bei ihren Produkten, die auf Grundlage von Öl und Gas erzeugt werden. Wir lernen ja gerade, welche Vielfalt allein vom Gas abhängt und wie verflochten die Abhängigkeiten da sind. Gestern las ich, das Stickstoffwerk Piesteritz bei Wittenberg habe die Herstellung von AdBlue eingestellt, ohne das viele LKW nicht mehr fahren können. Ich habe gleich mal überlegt, welche schwergewichtigen oder sperrigen Baumarktgüter wir in nächster Zeit noch brauchen werden, um diese vor dem eigentlichen Bedarf, solange es noch geht, „an Land zu ziehen“.

Andererseits sollen Börsen eine möglichst gute Transparenz hinsichtlich existierender Anbieter schaffen und so Abnehmern die Sichtbarkeit der günstigsten Option ermöglichen. Wiederum andererseits gibt es beim Gas keine so flexible Infrastruktur, dass man einfach mal den Anbieter wechseln könnte. Alle „beweglichen“ Transportwege – wie etwa LNG-Tanker – machen den Transport deutlich teurer, und Pipelines können nicht verschoben werden, hin zu einem billigeren Anbieter. Der müsste seine eigene Pipeline quasi als Bestandteil des Angebotspakets „mitbringen“. Hinzu kommt, dass Börsen nicht nur einfach ein Marktplatz sind, sondern zugleich auch ein Wettplatz. Hebelgeschäfte, Insider-Geschäfte – ja, trotz des Transparenzversprechens soll es sie geben -, Manipulationsmöglichkeiten und, nicht zuletzt, Kapitalismus pur mit all der kriminellen Energie, die Karl Marx farbenfroh für unterschiedliche erzielbare Profitraten aufgezählt hatte (ich zitiere nur den Kulminationspunkt: „… 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens“).

Also, so ganz entschieden scheint mir die Sache noch nicht zu sein, wenn ich das den Marktapologeten mal entgegen halten darf, insbesondere unter dem Eindruck, was uns der Markt – der unter dem Eindruck der Sanktionen nun mit absoluter Sicherheit als manipuliert gelten darf – aktuell so für Zahlen präsentiert.

Aber das nur vorweg. Jetzt kommt das Entscheidende aus diesem Zitat, die nun über jeden Zweifel erhabene Ironie bei der Vergabe der Eins-Plus (sofern man das nicht durch die Brille des unübersetzten russischen Zensurensystems betrachtet, in dem die Eins wie in der Schweiz die schlechteste Note ist, aber dann wäre der Tiefpunkt eher eine Eins-Minus): Die Auffassung des lettischen Physikers, Gas sei zu wertvoll geworden, um einfach zur Stromerzeugung verbrannt zu werden. Die Alternative zum Gas ist der Strom selbst.

Man kann sicherlich trefflich darüber streiten, ob dies eine präzise und unmissverständliche Formulierung ist und ob sie aus Sicht eines kleinen Landes, das kaum eigene Energiequellen hat, einen praktischen Wert hat. Und dann ist da noch das Wörtchen wertvoll, bei dem ich denke: Hat er vielleicht teuer gemeint? Aber vielleicht war ihm auch einfach die vielfältige Verwendbarkeit (und Verwendung!) von Erdgas wesentlich bewusster als vielen deutschen Politikern, die der Auffassung sind, man benötige es nicht, oder wenn man es doch benötige, dann als einziger, sodass man es aus anderen als russischen Quellen problemlos beziehen könne.

Wie dem auch sei. Ich stimme dem Mann zu, jedenfalls in dem Sinne, wie ich seine Aussage verstehe: Fossile Energieträger verbrennen, um daraus mit geringem Wirkungsgrad Strom zu generieren ist dann entbehrlich, wenn man Elektrizität aus anderen Quellen weniger problematisch – und das heißt in meinen Augen: mit geringerem CO2-Fußabdruck und weniger CH4-Lecks – erzeugen kann. Aber gerade das dürfte für Lettland eben problematisch sein. Die lettischen Winter sind dunkel; da scheidet die Sonne als Quelle aus. Wie es dort um die Windhöffigkeit bestellt ist, kann ich nicht beurteilen. Man ist ja ein Küstenland, aber die Ostsee hat wohl nicht dieselben Windverhältnisse wie die Biskaya oder die Nordsee. Egal, das hat er vielleicht auch gar nicht im Hinterkopf gehabt.

Und dass sich die Attacke des russischen Journalisten auch gegen die Aussage „die Alternative zum Gas ist der Strom selbst“ richtet … – Strom, Elektrizität … – ist ihm die Parole des russischen Revolutionsführers Lenin „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ unbekannt, oder hält er sie für überholt? Es ist eine schwer zu leugnende physikalische Tatsache, dass Elektrizität die am einfachsten zu verteilende Energieform ist und zugleich diejenige, die am vielfältigsten und mit den höchsten Wirkungsgraden einsetzbar ist. Ihr einziger Nachteil ist die schlechte Speicherbarkeit. Überall dort, wo Gas entweder verheizt wird oder in Strom umgewandelt wird, verhält sich Russland als Exporteur wie ein afrikanisches Entwicklungsland, das Rohstoffe exportiert, anstatt daraus zumindest Halbzeuge oder sogar Produkte zu machen (woran die afrikanischen Länder freilich durch Zollschranken gehindert werden, die für Rohstoffe nicht in derselben Höhe existieren).

Na gut. Weiter im Text des Journalisten:

Die Grünen sind eigentlich für die Natur. Sie sind für die so genannte „grüne Wende“ aufgestanden. In der Praxis gibt es keine grüne Wende und keinen Naturschutz. Sie haben das Land mit Windrädern vollgemüllt. Energie gibt es allerdings zu wenig. Wie die Windräder entsorgt werden können, ist auch nicht ganz klar.

So so, es ist also nicht so, dass die Hälfte der deutschen Elektrizität inzwischen aus erneuerbaren Energiequellen stammt? Wir können ja gern über die einzelnen Energiequellen diskutieren, auch darüber, ob sie zweckmäßig, wirklich „grün“ sind. Ich habe da bei Biogas zum Beispiel durchaus so meine eigenen Fragen, denn der Prozess bis hin zum Gas oder gar – einschließlich der Betrachtung des Konvertierungswirkungsgrades – bis hin zur „auf dem Bauernhof“ gewonnen Elektrizität ist gespickt mit klimawirksamen Schritten: alle Fahrten mit dem Traktor erfolgen gewöhnlich mit (subventioniertem) Diesel, Düngung erfolgt gewöhnlich mineralisch, und Mineraldünger wird – wir lernen es gerade – auf Erdgasbasis energieintensiv hergestellt, und schließlich setzt Überdüngung im Boden über bakteriologische Prozesse das berüchtigte Lachgas frei, das seinerseits gegenüber CO2 eine mehrhundertfache Klimawirkung in der Atmosphäre entfaltet.

Vor mittlerweile vielen Jahren hat einmal eine Zeitschrift für Photovoltaik die verschiedenen Formen der Erzeugung chemischer Energieträger auf dem Acker mit dem Aufstellen von PV-Modulen auf derselben Fläche verglichen, und der elektrische Ertrag letzterer war glatt um eine Größenordnung höher als alle Ackerei. Insofern halte ich meine Kritik an dieser Form der Gewinnung erneuerbaren Energien für einigermaßen fundiert. Der Mann aus Russland attackiert demgegenüber besonders die Windkraftanlagen, weiß zu berichten, dass sie das Land vollmüllen und ihre Entsorgung ungeklärt sei.

Nun, dieses vollmüllen scheint mir eine subjektive Kategorie zu sein. Unbestreitbar ist, dass die Dinger landschaftsbildprägend sind. Überlandleitungen, Kühltürme und Industrieanlagen sind es aber auch. Und ein Dürresommer, wie er in diesem Jahrhundert ja nun wahrhaftig nicht zum ersten Mal aufgetreten ist und in dieser Häufung der Klimakatastrophe zugeschrieben wird… Fragen Sie mal einen Bauern, ob diese Trockenheit landschaftsbildprägend ist. Sogar auf Satellitenbildern ist sie schon zu erkennen. Und wir stehen – man kann es nicht oft genug betonen – angesichts der Trägheit vor allem der maritimen Systeme hinsichtlich ihrer Aufnahmefähigkeit für Wärme und CO2 noch ganz am Anfang einer verheerenden Entwicklung.

Ich würde durchaus konzessieren, dass der eine oder andere Windpark unschön ist, vor allem die älteren, in denen die Flügelbewegungen hektischer sind, weil die damaligen Modelle eine geringere Nabenhöhe und Leistung aufweisen. Die werden, wenn es gut geht, irgendwann durch leistungsstärkere, weniger und langsamer drehende Typen ersetzt. Was die berechtigte Frage aufwirft, was mit den alten passiert. Entsorgung, so will ich unterstellen, ist eine Kunst, die Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu prächtiger Blüte entwickelt hat. Da kann man dann schon mal kritisch auf Deutschland herabblicken. Ja, wir haben da noch ein paar Schlampereien im Zusammenhang mit der Zerlegung der meist GFK-basierten Flügel zu bereinigen. Das Verfahren ist indes geklärt; es wird nur eben nicht überall sauber angewendet, weil das eingehauste Zersägen aufwändiger ist, als das offene mit erheblicher und problematischer Glasstaubentwicklung.

Und insgesamt ist es mit der Verspargelung der Landschaft so wie mit jedem Gewerbegebiet: Die Natur, die es vorher dort gab, war irgendwie unberührter oder grüner oder intakter. Oder wirkte zumindest so. Aber wir wollen ja von irgendwas leben, Arbeitsplätze und so. Also gibt es das Gewerbegebiet dann eben doch. Und ähnlich ist es mit dem Strom: Er kommt eben nicht aus der Steckdose. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Errichtung und der Betrieb von Windkraftanlagen den örtlichen Anwohnern (die kilometerweit weg sind, sein müssen infolge der Abstandsgebote, was jedoch über hundert Meter hohe Türme deswegen noch nicht unsichtbar macht) in vergleichbarer Weise schmackhaft gemacht wird wie die Rodung eines Grünheider Kiefernwaldes für eine Fabrik zur Herstellung von E-Autos. Irgendwie war das ja auch möglich.

Kommen wir zum letzten Punkt, der mir auffiel:

…, Ursula von der Leyen, erklärt in einer bemerkenswerten Stellungnahme, dass Europa bereit sei, eine Preisgrenze für Pipeline-Gas aus Russland festzulegen. Die G7-Länder haben außerdem beschlossen, eine Preisobergrenze für russisches Öl einzuführen.

Ja, das wird lustig. Irgendwo auf anti-spiegel.ru oder auf de.rt.com habe ich mal eine Attacke auf die Preisexplosionen an den hiesigen (also den deutschen) Tankstellen gelesen, und zwar unter Verweis auf Spanien, wo die Preise… – ratet mal, was die Spanier gemacht haben? – genau, gedeckelt wurden. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Eine Preisdeckelung ist also nicht per se eine schlechte Idee. Auf jeden Fall ist es umständlicher, sich hinterher eine Übergewinnsteuer auszudenken und dann zu versuchen, sich einen Teil des Profits wieder zurückzuholen. Die Frage ist in beiden Szenarien nur, wie groß die Macht des Anbieters ist und wie groß die des „Deckelers“ und wie hoch die Verluste des Anbieters, wenn er gar nichts verkauft. Ich denke schon, dass eine Benzinpreisdeckelung in Deutschland funktioniert hätte. Keinen Sprit mehr in einem so großen Land zu verkaufen wäre eine verdammt teure Party für die Konzerne geworden. Außerdem hätte die Regierung es nicht bei einem Deckel belassen müssen. Es gibt da bestimmt irgendwelche Gesetze zur Versorgungspflicht durch die Oligopole.

Damit behaupte ich nicht, dass dasselbe gegenüber Russland funktionieren würde. Auf Russland ist deutsche oder EU-Gesetzgebung nicht anwendbar, und außerdem hat man sich eh schon außerhalb aller Völkerrechtsnormen gestellt: Krieg auf der einen Seite, völkerrechtswidrige Sanktionen, Waffenlieferungen, Ausbildung einer Kriegspartei auf der anderen.

Es bleibt spannend. Ach so, das leuchtendste Beispiel für Dummheit wurde in den hier aufgeführten Zitaten übrigens nicht benannt. Darauf muss jeder selbst kommen. Ist aber nicht schwer.

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Zu Stimmen aus Russland (1)


Ich lese oft RT-DE, also Russia today auf Deutsch. Außerdem bin ich oft auf der Seite https://anti-spiegel.ru von Thomas Röper, der von St. Petersburg aus — in letzter Zeit auch einige Male live aus dem Donbass — abwechselnd seine Sicht oder die russischer Medien auf die Welt darlegt, insbesondere auf den Westen. Seine Übersetzungen sind für mich eine wertvolle Quelle, da ich sie für authentisch halte, auch wenn ich sowohl seine persönlichen Ansichten als auch die der Journalisten, deren Texte er übersetzt, nicht immer teile. Gestern fand ich zum Beispiel diesen Artikel, der im Wesentlichen eine Übersetzung darstellt:

https://www.anti-spiegel.ru/2022/das-russische-fernsehen-ueber-die-kosten-der-energiewende-und-den-toedlichen-winter/?doing_wp_cron=1661182504.8538589477539062500000

Der Originalbericht war zwar verlinkt, aber für mich nicht erreichbar:

https://vesti7.ru/video/2463941/episode/21-08-2022/

Der Korrespondent schreibt (über Nordstream 1) und zitiert dabei Gazprom:

Ab dem 31. August wird der letzte Gaskompressor für drei Tage zur planmäßigen Wartung abgeschaltet: „Gemäß der technischen Dokumentation von Siemens muss das Aggregat alle 1.000 Stunden gewartet werden, was Folgendes umfasst: Inspektion des Gehäuses auf Risse, Löcher, Verformungen, Brandflecken und Reinigung des Gehäuses; Inspektion der Ölversorgungs-, Luft- und Verbrennungsprodukt-Entlüftungssysteme auf Lecks, Prüfung der Verbindungen und Beseitigung von Leckageursachen; Überprüfung der Funktion von Sicherheitsventilen und der Einstellung des Luftstromkontrollsystems“, heißt es in der Erklärung von Gazprom.

Das fand ich schon irgendwie seltsam, altmodisch, um genauer zu sein. Ich meine, alle 1000 Stunden eine Abschaltung für 72 Stunden — das ist schon eine veritable reguläre Ausfallrate. Sicher, diese Aggregate leisten harte Arbeit. Da kann schon mal was verschleißen oder gar kaputtgehen. Aber angesichts dessen, was da geprüft wird, fragt man sich, ob die Prüfverfahren auf dem jüngsten technischen Stand sind. Erstens können visuelle Prüfungen des Gehäuses auch während des Betriebes vorgenommen werden, auch Lecks kann man erkennen, bei Flüssigkeiten in der Wanne, Gasaustritte sind durch einen Druckanstieg in gekapselten Systemen erkennbar. Verschleißerscheinungen an Lagern schließlich sind akustisch erkennbar, und wenn Menschen dazu nicht in der Lage sind, dann sollte eine automatisch rund um die Uhr durchgeführte Spektralanalyse der Rotationsgeräusche Klarheit verschaffen oder zumindest Verdachtsmomente von unbedenklichem und daher nicht zu unterbrechendem Weiterbetrieb scheiden.

Aber ich zweifle nicht die Wartungsvorschriften an; die werden von Gazprom sicherlich korrekt wiedergegeben worden sein. Ich frage mich, aus welcher Zeit sie stammen und wie sie für Aggregate aussehen, die aktuell produziert werden. Ein Vergleich mit den angeblich in Russland hergestellten Pumpen für Nordstream 2 wäre interessant gewesen.

Dann geht’s wieder um die westlichen Sanktionen gegen Russland und deren Auswirkungen (sowie um die des vor nicht allzu langer Zeit dem Spiel spekulativer Märkte überlassenen Gashandels) auf die Preise. Aber nicht nur diese Märkte spekulieren, sondern auch die Journalisten. Da hat der gute Mann (oder war’s eine Frau?) tief in seine Kaffeetasse geschaut und dort gelesen, dass sich der Anteil der (deutschen) Bürger, die mit Scholz‘ Politik unzufrieden sind, im Herbst um 44 Prozentpunkte erhöhen könnte. Schade, dass ich den Originalartikel nicht sehen kann; da war bestimmt ein schönes Foto von einer Kristallkugel abgebildet. Na ja. Es gehört nicht viel Prognosekraft dazu zu erahnen, dass in dem Maße, in dem die Zimmertemperaturen ungemütlich werden, auch die Zufriedenheit in der Bevölkerung abnimmt. Von der Tendenz her hat der Korrespondent sicherlich Recht, aber wie ist er ausgerechnet auf 44 Prozent gekommen?

Dann hat er eine Quelle gefunden, die so richtig schön zum Gruseln war: The Hill. Ich habe mal davon gehört. In der Übersetzung ist kein Link angegeben. Es heißt:

Das amerikanische The Hill ist in diesem Punkt geradezu pessimistisch: „Das Ergebnis von Europas eigenem Energieexperiment ist ein tödlicher Winter. Eine Kombination aus utopischen Klimainitiativen, Inflation, sinkender Produktion fossiler Brennstoffe in den USA und der mangelnden Bereitschaft, russisches Öl oder Erdgas zu kaufen, könnte in diesem Winter mehrere hunderttausend Menschen auf dem gesamten Kontinent das Leben kosten. Die Versuche, konventionelle Energie durch grüne Quellen zu ersetzen, haben sich als katastrophal erwiesen. Deutschland zum Beispiel hat im Rahmen seiner eigenen Version des Green New Deal 150 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien ausgegeben, nur um mit den höchsten Energiepreisen der Welt konfrontiert zu werden.“

Na, da bin ich ja mal gespannt. Wie viele Tote hat eigentlich der Winter 1946/47 in Deutschland gefordert? Die Wikipedia sagt, es seien mehrere Hunderttausend gewesen. Aber das war ein arktischer Winter und nicht so ein Tauwetter, wie es uns das 21. Jahrhundert fast alljährlich liefert, es gab keine Lebensmittelvorräte, und der Zustand der unzerstört gebliebenen Bausubstenz dürfte um ein Vielfaches schlechter gewesen sein als heute. Ach ja, und russisches Öl und Gas gab’s natürlich auch noch nicht. Aber The Hill macht ja keine Prognose für Deutschland, sondern für den gesamten Kontinent. Großbritannien wird sicherlich auch noch sein Scherflein beitragen. Wir werden es erleben.

Aber vielleicht kann der Alarmismus von The Hill ja positive Aktivierungen bewirken, welche auch immer das sein mögen. Sodann — da zitiert der russische Schreiber seine amerikanischen Kollegen, von denen er sich ja später immer noch distanzieren kann, wenn’s nicht passen sollte — zieht das Blatt über „utopische Klimainitiativen“ her. Ganz sicher existieren in Berlin einige nicht utopische, sondern illusionäre Vorstellungen davon, wie man in allernächster Zeit im Hau-Ruck-Verfahren in Deutschland alle Energie aus erneuerbaren Quellen generieren kann, ohne dafür wieder polnische und französische Areale erobern zu müssen, diesmal für die Aufstellung von Solarpanelen und Windrädern. Nichts wächst ohne qualifizierte Arbeitskräfte — die von den Vorgängerregierungen unter Altmeier und Merkel in die Wüste geschickt wurden — und nichts entsteht von heute auf morgen. Aber utopische Klimainitiativen sind mir doch allemal lieber als stoisches Weiter-so!-Bohren nach Gas, Kohle und Öl oder dystopische Klimaszenarien. Merke: Utopien sind positiv besetzt, Dystopien negativ. Utopien sind keine Pläne für morgen oder nächstes Jahr, aber wenn man keine Vorstellung davon hat, wie die Dinge in zehn oder 20 Jahren laufen sollen, torkelt man ziellos durch die Zeit. Die Chinesen fahren mit langfristigen Planungen eigentlich gar nicht so schlecht, finde ich, und ihre Vorhaben klingen in meinen ganz privaten Ohren zuweilen auch recht utopisch, also unerreichbar mit heutigen Mitteln. Aber für übermorgen stehen ja nach einem Tag bereits die Methoden von morgen zur Verfügung.

Interessant finde ich auch, dass russische Quellen zwar betonen, dass China Rekordmengen an Gas und Öl aus Russland bezieht, nicht jedoch, dass sie von Jahr zu Jahr auch beträchtlich wachsende Ausbauzahlen bei den Erneuerbaren vorzuweisen haben. Und sie werden dafür auch nicht beschimpft oder als Utopisten oder Idioten bezeichnet. Es kommt einfach nicht vor. Und dies, obwohl die russische Politik gegenüber den Chinesen bzw. über diese aktuell uneingeschränkt positive Verlautbarungen produziert.

The Hill schreibt dann noch, Deutschland habe „im Rahmen seiner eigenen Version des Green New Deal 150 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien ausgegeben.“ Die Quelle für diesen Betrag hätte ich ja ganz gerne mal gesehen, aber über die letzten 22 Jahre mag da im Rahmen des EEG einiges zusammengekommen sein. Immerhin existiert ja auch eine installierte Leistung von etwa 100 GW. Die hätte es im fossilen Bereich kaum billiger gegeben. Klar ist die bei Wind und Sonne nicht rund um die Uhr abrufbar, sondern nur – so viel gehört zur Wahrheit – während 10…20 Prozent des Jahres, bei Sonne eher an der Untergrenze und überwiegend im Sommer, bei Wind eher an der Obergrenze und überwiegend im Winter – was, nebenbei bemerkt, eine ganz praktische Verteilung ist.

Diese „katastrophale“ Maßnahme hat dazu geführt, dass immerhin die knappe Hälfte des deutschen Stroms nicht von Putin abhängig ist; mehr noch, inzwischen ist Frankreichs Atomstromwirtschaft zunehmend auf unseren Ökomist angewiesen. Freilich würden die Russen sagen, dass sie sich bei Atomkraft anders anstellen als die Franzosen, aber immerhin haben die Franzosen noch kein Tschernobyl vorzuweisen, und das war nicht das einzige russische Atomdesaster.

Auch ist unser Ökostrom bei Weitem nicht die Hälfte des deutschen Primärenergiebedarfs, denn es gibt ja noch die chemische Verarbeitung der fossilen Rohstoffe, den Wärme- und Transportsektor, die private Mobilität eingeschlossen. Er ist keine Lösung für den deutschen Winter 2022/23, und er wird auch keine für 2023/24 sein. Daher kann uns eine wirtschaftliche Katastrophe sondergleichen überrollen, über die viele Russen berechtigterweise den Kopf schütteln werden, vielleicht sogar lachen. Aber mit Hill und eben auch mit vielen russischen Primärquellen von unsinnigen Maßnahmen im Hinblick auf den Klimawandel zu sprechen wäre Unfug. Unfug wäre lediglich, sich derzeit komplett darauf zu verlassen.

Das heißt, dass ich die Selbstkastration durch unvermittelten Verzicht auf fossile Rohstoffe von praktisch heute auf nächstes Jahr nicht für eine sinnvolle Maßnahme halte. Sie ist ökonomisch nicht sinnvoll, weil jede ruckartige Änderung für planvolles Wirtschaften Gift ist; sie ist sozial nicht sinnvoll, weil es die Ärmsten trifft, also diejenigen, die sich Verschwendung und damit klimaschädliche Emissionen gar nicht in dem Maße leisten können wie die oberen zehn Millionen, und weil Konflikte oder gar Chaos in einem Land das Gegenteil von Frieden sind; und sie ist im Hinblick auf den Klimaschutz nicht sinnvoll, weil ja eben nicht geplant wird, auf fossile Energieträger zu verzichten, sondern auf russische. Und amerikanisches Fracking-Gas, wenn es denn im Winter überhaupt zu haben sein wird, ist nicht nur nicht klimafreundlicher als russisches, sondern sogar dreckiger.

Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass neben allem Unverständnis für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gravierende methodische Fehler im Wirtschaftsministerium (vom Außenministerium will ich gar nicht erst anfangen) bei Habeck auch der folgende Gedanke eine Rolle spielt: Freiwillig wird der deutsche Michel — gemeint ist die breite Mehrheit — nie auf irgendwas verzichten. Dann braucht es eben transatlantische Wucht. Das ist dann zwar gegen alle guten Regeln, aber wenn die Erde brennt — und das führt sie uns ja jedes Jahr an neuen, immer größeren und immer heißeren Plätzen vor —, gelten eh keine Regeln mehr. Das macht seine Vorgehensweise zwar nicht korrekt, aber wenn du die Menschen ändern willst (also irgendjemand Habecks Entscheidungen), musst du erst mal versuchen, sie zu verstehen. Sonst musst du gegen sie kämpfen und dann an ihrer Stelle agieren, was harte Konflikte bedeutet, aber auch du selbst wirst Fehler machen.

Röpers Übersetzung ist noch länger, aber darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein.

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22. Juni 1941


Über einen langen Zeitraum hinweg habe ich keine Worte gefunden. Themen hätte es genug gegeben, mein Hausbau in der Kontinuität zahlreicher Beiträge der Vergangenheit – nein, die Berichte darüber sind nicht ad acta gelegt worden, aber ich habe irgendwie noch nicht den Wiedereinstieg gefunden –, das Voranschreiten der Klimakatastrophe, auch wenn dieses Jahr hierzulande nach den bisherigen Ereignissen keine extreme Dürre zu werden scheint – aber der Sommer ist noch lang, hat ja eigentlich erst heute angefangen –, Corona und das Leben in einer Pharmadiktatur… Was könnte man darüber nicht alles schreiben? Es ist jedoch schon alles geschrieben worden, und mein Blog hat nicht die Reichweite, um dem Geschrei von vor allem zwei Seiten, auch wenn die Auseinandersetzung nicht streng bipolar verläuft, eine neue Gewichtsverteilung zu verleihen.

Worüber aber wenig geschrieben wird im Deutschland des Jahres 2021, dem Land, von dem es einmal hieß, an seinem Wesen solle die Welt genesen, und worüber auch wenig gesprochen wird, ist der 22. Juni 1941 und seine 80. Jährung morgen früh um 3:15 Uhr: Der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion in den Grenzen seit dem Hitler-Stalin-Pakt.

Aber schlimmer noch: Es herrscht keineswegs betretenes Schweigen, Funkstelle, nein, in Der Zeit schrieb z.B. Alan Posener, man müsse sich „von der Vorstellung lösen“, „der Frieden mit Russland um beinahe jeden Preis sei wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 eine moralische Pflicht“. Mal abgesehen davon, dass die conditio „um beinahe jeden Preis“ natürlich fast alles ausschließt, denn fast nichts muss „um beinahe jeden Preis“ sein, existiert diese zugespitzte Vorstellung höchstens sehr vereinzelt. Diese Bedingung ist die Krücke, ohne die die Formulierung „Frieden mit Russland ist nachrangig“ von einer Sekunde auf die andere moralisch krachen geht. Aber genau diese Haltung ist es, die Posener zur Feder greifen lässt. Und er steht damit nicht mutig allein gegen Putin-Versteher, Russland-Freunde und sonstige den realen „Werten“ des Westens abholde Zeitgenossen. Er ragt kaum hervor aus der transatlantischen Phalanx derjenigen, die sich vom Imperium instrumentalisieren lassen für die Zwecke des Imperiums.

Ich will damit gar nicht behaupten, alle Deutschen, die aktuell auf dem antirussischen Streitwagen sitzen, wären ausschließlich ferngesteuert von oder zumindest motiviert durch Washingtons Exzeptionalismus und Unilateralismus. Aber wenn jemand aus eigenem Antrieb, womöglich gegründet auf denselben Fundamenten, die die Aggressionen gegen den Osten zwischen 1939 und 1945 trugen, heute gegen Russland hetzt, macht das die Sache ja nicht besser.

Dabei geht es mir gar nicht primär um Völkerverständigung, Weltfrieden, Menschenrechte, Demokratie und dergleichen Dinge, die bzw. deren Schwinden oder zumindest Gefährdung in einer satten und bequem gewordenen Gesellschaft anscheinend einfach keine so starke Mobilisierungswirkung mehr entfalten können, wie es 1945 wohl war, als eine große Mehrheit kriegsmüde war und instinktiv spürte, dass andere Wege einzuschlagen als die des gegenseitigen Mordens schlichtweg unabdingbar war. Mir geht es vielmehr um Innehalten, um die pragmatische Frage, was wem nützt, wo, im besten geschäftlichen Sinne, ein gemeinsames Projekt, und sei es substanziell sehr wirtschaftlich, zum beiderseitigen Nutzen sein kann, in dessen Abwicklung es wie zu eigentlich allen Zeiten fast unvermeidlich wäre, dass Menschen einander begegnen und neben der Verständigung über das Projekt persönliche Eindrücke austauschen, einander kennen lernen und – mitunter staunend – feststellen: Der andere ist irgendwie anders, aber in ziemlich vielen essenziellen Punkten ticken wir gleich. Warum also zum Teufel sollten wir uns für die Koordinaten seines Hauses interessieren, sie gar in irgendwelche Raketensysteme einprogrammieren?

Der Versuch, das fragile Kartenhaus, aus dem seit Jahrzehnten immer mehr ehemals stabilisierende Zwischenstützen entfernt werden, um sie zwecks noch größerer Höhe nach oben zu stellen, hin zu noch mehr Gewinn, schlägt in immer rascherem Takt fehl, obwohl doch alle, die Geld haben, schon alles besitzen, was sie brauchen, und es jenen, die noch (längst) nicht alles haben, was sie benötigen, an Kredit mangelt; es ist also schwer, den Output jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit noch loszuschlagen und dies gar, wie vom zu verzinsenden Kapital vorgegeben, in exponentiell steigendem Umfang. Und in solchen Zeiten blockieren wir wirtschaftliche Gebiete mit enormem Nachfragepotenzial und berauben uns damit eines Marktes mit einem Umfang von ungefähr anderthalb Milliarden Menschen (China und Russland), belasten das Kartenhaus also zusätzlich. Natürlich: Täten wir es nicht, setzten wir auf Wandel durch Handel oder auch einfach nur auf Handel und gegenseitigen Vorteil, so würde das die fatale Dynamik der Eskalation des Innenwiderspruchs der kapitalistischen Wirtschaft nicht beseitigen, sondern nur etwas verzögern… Wir müssen uns mit dieser Sache, mit der Frage, was genau es ist, das uns in den Ruin treibt, also so oder so auseinandersetzen, und dabei ist es fast schon egal, ob dieser Ruin der plötzliche Untergang der Menschheit in einem weltweiten Atomkrieg oder der allmähliche Untergang in kaum weniger gewalttätigen Auseinandersetzungen anlässlich klimabedingt verlorenen Lebensraums ist. Beides ist keine Perspektive, und beides sollte Menschen mobilisieren, die Kinder oder gar Enkel haben, denn vor allem deren Lebensspanne ist es, die auf dem Spiel steht.

Auch wenn kaum jemand diese Botschaft hören oder lesen wird, aber ich für meinen Teil möchte klar stellen: Ich hege keine aggressiven Gefühle gegen das russische Volk, und ich hätte gerne, dass jene Menschen in Russland, die sich mit immer weiter zunehmendem Unverständnis angesichts der aggressiven Äußerungen von NATO, EU und Deutschland abwenden, wissen, dass es zumindest ein paar Leute hierzulande gibt, die nicht so denken. Ich bin kein Fan von Nord Stream 2, und ich ignoriere nicht die Verbrechen, die vor allem das polnische Volk ab dem 1. September 1939 durch die Deutschen erlitten hat, und schon gar nicht leugne oder verharmlose ich die Shoa und was es sonst noch an Fürchterlichkeiten im Zweiten Weltkrieg von deutscher Hand gegeben hat. Und ebenso ist mir klar, dass der Zweite Weltkrieg eine Vorgeschichte mindestens seit Versailles gehabt hat, in deren Verlauf nicht allein Deutschland Schuld angehäuft hat. Aber morgen ist Russland dran und jene, die als Teil der Sowjetunion ebenfalls Opfer Hitlerdeutschlands wurden. Schweigen wir nicht, wenn die Scharfmacher wieder zu den Waffen rufen, denn sie tun es ganz ohne Zweifel!

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