Deutsche Meinung zu Stimmen aus Russland (3)


Dagmar Henn hat in ihrem Artikel vom 22. September einen Blick voraus gewagt. Er war, wie die meisten ihrer Artikel, recht interessant, auch wenn ich hier und da nicht mitgehe und einiges auch zu bemängeln habe:

https://de.rt.com/europa/149544-nach-russischen-teilmobilmachung-westen-bleiben/

Ein wesentlicher Anker ihrer Ausführung scheint mir das Treffen der Schanghaier Organisation zur Zusammenarbeit (SOZ) in Samarkand zu sein. Man gewinnt den Eindruck, dass dies ein Geheimtreffen gewesen sei, denn sie wusste nicht zu sagen, ob die geplanten Referenden in den ukrainischen Regionen, die ein zweiter Anker des Artikels sind, dort Gesprächsthema waren oder nicht. Sie schrieb: „… dürften dort ebenso besprochen worden sein …“ Und die Gewissheit darüber, ob es nun so war oder nicht, wünscht man sich als Leser deshalb, weil nach Henns Worten die unausgesprochene oder vorzugsweise natürlich ausgesprochene Billigung des aktuellen russischen Handelns – im Wesentlichen die Durchführung dieser Referenden und die Teilmobilmachung – durch alle übrigen Teilnehmer des Treffens für Russland wichtig ist. Sie schreibt: „… und der Schritt, der jetzt vollzogen wurde, beruht darauf, dass diese Partner die Legitimität des russischen Vorgehens akzeptieren.“

Mit Verlaub, Frau Henn, ich bezweifle das. Russland handelt nach seiner ganz eigenen Risikoanalyse. Wenn es eine Situation als gefährlich einschätzt, dann wird es Maßnahmen ergreifen, die es für geeignet hält, die Gefahr auszuräumen, und es wird dafür keine Rolle spielen, was andere Nationen davon halten. Es wird den Handelnden freilich ein besseres Gefühl bereiten, wenn sie den Eindruck haben, mit ihrem Handeln nicht isoliert zu sein, jedenfalls nicht vollkommen isoliert. Aber das dürfte dann auch schon den ganzen Unterschied ausmachen.

Henn schreibt unter Bezug auf ungenannte Kommentatoren, „… China und Indien seien weiterhin zurückhaltend, weil das Thema einer Sezession für sie zu heikel ist, und sie die Referenden in den vier Gebieten für eine Sezession halten.“ Aber hallo! Natürlich sind das Sezessionen! Ich glaube, dieser Begriff war bei der Abspaltung der Krim zumindest in Russland durchaus Usus. Kosovo von Serbien, Krim von der Ukraine, Schottland von Großbritannien, Taiwan von China, Tschetschenien von Russland… – erfolgreich oder auch nicht.

Die „Mutterländer“ solcher Initiativen sehen das meist nicht so gern und berufen sich dabei auf das Völkerrecht und die Unverletzlichkeit der Grenzen usw. Und sie haben Recht damit. Es kann niemand von einem Land verlangen, dass es Territorien und damit auch Einflussgebiete ohne Widerstand gehen lässt. Nur ist die Frage, was geeignet und zugleich machbar ist, einem abtrünnigen Territorium den Verbleib im Mutterland schmackhaft zu machen, ohne dass andere Territorien desselben Landes sich dadurch benachteiligt sehen oder gar auf ähnliche Gedanken verfallen. Denn eine Alternative zum Werben gibt es nicht. Methoden, wie sie etwa die Ukraine gegenüber dem Donbass anwendet, also der Aufmarsch des Militärs und der Angriff unter anderem auch ziviler Ziele, werden vielleicht eine Unterwerfung erreichen, jedoch keine Integrität. Aber wenn ein Land nach dem Verständnis eines Teils der Bevölkerung unterschiedliche Ethnien beheimatet und eine dieser Ethnien für unerwünscht erklärt, kann dem erstgenannten Teil der Bevölkerung eine Unterwerfung durchaus passabel erscheinen. Oder eine Vertreibung der unerwünschten Ethnie. Oder gar deren Vernichtung. Das wäre alles nichts Neues in der menschlichen Geschichte.

Dann jedoch bringt Henn eine interessante Parallele, die mich ein Stück weit zurückrudern lässt, was mein Statement zur Sezession angeht. Sie schreibt: „Es ist aber durchaus eine andere Sicht möglich, die zumindest in der chinesischen Geschichte mit Tibet eine Parallele hätte.“ Und dazu führt sie folgendes aus: „Tibet war jahrhundertelang Teil des chinesischen Reiches; in den 1920ern wurde es durch britische Kolonialtruppen von China abgetrennt und die – ebenfalls seit Jahrhunderten – dort lebende chinesischstämmige Bevölkerung wurde vertrieben (…). Das war eine, mit fremder Hilfe oder im fremden Interesse, durchgeführte Sezession, die durch die chinesische Volksbefreiungsarmee wieder rückgängig gemacht wurde, was übrigens für die Mehrheit der tibetischen Bevölkerung die Befreiung aus der Leibeigenschaft bedeutete.“

Hoppla! Das war mir ja neu. Und ich musste in der (deutschen) Wikipedia auch ein bisschen suchen, um Passagen zu finden, die das bestätigen. So steht in der „Geschichte Chinas“: „Die Mandschu gründeten nach dem Sturz der Ming-Dynastie 1644 die letzte chinesische Dynastie. Bis Ende des Jahrhunderts hatten sie ihre Macht im ganzen Territorium, das die Ming beherrscht hatten, konsolidiert und mit erheblichem Aufwand um Xinjiang, Tibet und die Mongolei erweitert.“ Im Artikel „Tibet“ liest sich das dagegen etwas anders. Dort wird Tibet als mandschurisches Protektorat bezeichnet; im 19. Jahrhundert hätten die Menschen in einem feudalen System unter den Lamas gelebt. Daran hatte der britische Einmarsch offenbar nichts geändert.

Also, wenn man den geschichtlichen Bogen nur bis zum richtigen Zeitpunkt zurückspannt – in diesem Fall also bis in die Mandschu-Dynastie –, wird man häufig Konstellationen finden, an die man „anknüpfen“ kann, zu denen man „restaurieren“ kann. Ginge man im Falle Tibets „zu weit“ zurück, wäre Tibet noch kein Teil Chinas; dann wäre die Besetzung Tibets in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts lediglich eine zweite Okkupation. Nun ja.

Bezugnehmend auf diese Parallele schreibt Henn nun über die Sowjetunion:

„Die Auflösung der Sowjetunion, die auf dem berüchtigten Dreiertreffen beschlossen wurde, war nicht nur ein Putsch, weil sie gegen die geltende Verfassung verstieß, sie ignorierte auch ein abgehaltenes Referendum. Die Entstehung des Staates Ukraine, die in sich nicht durch ein weiteres Referendum bestätigt wurde, aber bedeutende Bevölkerungsgruppen mit einschloss, die mit hoher Mehrheit für den Weiterbestand der Sowjetunion gestimmt hatten, war also selbst ein Akt einer illegitimen Sezession. Wenn man von dieser Sicht ausgeht, wäre die Wiedereingliederung zumindest jener Teile der Ukraine, die damals entsprechend abgestimmt hatten, eine Aufhebung eines unrechtmäßigen Zustands.“

Damit setzt sie einige Vorkenntnisse voraus, die wohl insbesondere im Westen nicht als selbstverständlich angesehen werden können. Das „berüchtigte Dreiertreffen“ war ein Treffen von Boris Jelzin (russische Sowjetrepublik), Leonid Krawtschuk (ukrainische Sowjetrepublik) und Stanislaw Schuschkewitsch (weißrussische Sowjetrepublik). Es fand am 7. Dezember 1991 in Weißrussland statt. Die drei Herren beschlossen dort das Ende der UdSSR – wie drei Fürsten, völlig undemokratisch. Ob der Begriff Putsch dafür angemessen ist, möchte ich dahingestellt sein lassen, denn weder war das Militär involviert noch wurde sonst irgendwie Gewalt angewendet – zu diesem Zeitpunkt! Bemerkenswert ist jedoch das ebenfalls von Henn nur kurz erwähnte Referendum, das am 17. März desselben Jahres stattgefunden hatte und in dem folgende Frage gestellt wurde:

Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken zu erhalten, wo Menschen aller Nationalitäten Rechte und Freiheiten garantiert werden?

76,4 Prozent der Bürger der UdSSR stimmten damals mit „ja“. Eigentlich eine klare Sache, nachkarteln unangemessen. Nun, die drei Herren haben nicht nachgekartelt; die haben das Referendum einfach vom Tisch gewischt. Die Ukrainer haben ein weiteres Referendum über ihre staatliche Unabhängigkeit durchgeführt, interessanterweise bereits eine Woche vor dem „berüchtigten Dreiertreffen“ und das ging deutlich zugunsten der Eigenstaatlichkeit der Ukraine aus. Wie man innerhalb eines dreiviertel Jahres die Stimmung so drehen kann!

Henn argumentiert: Das Referendum vom 17. März 1991 gilt, und alles danach war ein Putsch, also unrechtmäßig. Was jetzt stattfindet, sei lediglich die partielle Wiedereinsetzung des Rechts. Partiell, weil die Referenden ja nur einen kleinen Teil der Ukraine betreffen. Und so ganz wird der ursprüngliche Zustand ja auch in einem anderen Punkt nicht restauriert: Die heutige „Sowjetunion“ besteht bislang nur aus Russland und der Krim. Und die geplanten Beitritte des Donbass und der zwei anderen separatistischen Regionen erfolgen auch nicht als eigene Körperschaften neben Russland zu einem größeren Ganzen, sondern zu Russland. Möglicherweise werden diese Regionen den gleichen Status erhalten, wie ihn z.B. Tschetschenien hat; Russland ist ja kein homogenes Ganzes, sondern eine Föderation. Aber das werden wohl Details sein, die in ihren rechtlichen und Durchführungsdetails für die abstimmenden und für die Sezession (und damit implizit oder sogar ausdrücklich auch für den Beitritt zu Russland – zu den Fragen, über die bei den Referenden abgestimmt werden soll, habe ich allerdings bislang nichts gefunden) votierenden Menschen nebensächlich sind.

Was nun allerdings an dem ukrainischen Referendum von 1991 illegitim gewesen sein soll, hat sie nicht erklärt. Was genau macht ein Referendum illegitim?

Henn fragt: „Denn welche Art der Entscheidung wäre demokratischer als ein Volksentscheid?“ und weist zu Recht darauf hin, dass die EU keine derartige Legitimation habe: „Weder der Anschluss der DDR noch die Einführung des Lissabon-Vertrags wurde auf dieser Ebene zur Entscheidung gestellt; beide haben daher eine wesentlich schwächere Legitimität, als es ein Beitritt dieser Regionen zur Russischen Föderation haben könnte.“ Und von partizipativer Demokratie, also davon, was Demokratie eigentlich ist, kann ja nun in Deutschland auch keine Rede sein. Volksbegehren auf Bundesebene? Fehlanzeige. Trotz schon vor vielen Jahren in Umfragen erhobener überwältigender Mehrheiten für einen solchen Wunsch. Aber wo kämen wir denn hin, wenn in einer Demokratie Volkes Wille zählte? Das hatte schon das Politbüro der SED sehr richtig erkannt.

Weiter schreibt Henn: „Der zeitliche Ablauf, der aus den gestrigen und heutigen Entscheidungen folgt, ist ziemlich klar. Bis zum 27. September werden die Referenden durchgeführt …; fünf Tage zum Auszählen; dann werden formell entsprechende Anträge zur Aufnahme in die Russische Föderation eingehen.“ Also, ich hege wenig Zweifel, dass das so kommen wird und Henn offenbar ebenfalls nicht. Aber war da nicht noch was? Sollte der „dann“-Teilsatz nicht konditioniert sein: „Im Falle einer mehrheitlichen Zustimmung …“? Ein Plan B existiert offenbar nicht. Nun gut, bei Volkskammerwahlen gab’s den ja auch nicht.

Sie skizziert den erwarteten Ablauf: „Von den Abstimmungen über die Annahme bis zur Unterzeichnung des Beschlusses durch den Präsidenten dürfte es sehr schnell gehen. Dann würde die Aufnahme in die Russische Föderation (der historische Humor ist sicher beabsichtigt) aller Wahrscheinlichkeit nach auf Montag, den 3. Oktober fallen.“ Ja, da dürfte in Moskau der eine oder andere kichern, wenn’s so kommen sollte.

Henn: „Aber zurück zur Entwicklung, die aus diesen Entscheidungen resultiert. Die Warnungen lauteten immer, wenn Angriffe auf russisches Territorium mit westlichen Waffen und unter westlichem Kommando erfolgten, dann würden die wirklichen Auftraggeber zum Ziel. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Bundeskanzleramt am nächsten Morgen einen Besuch von Herrn Kinschal erhält, aber es bedeutet, dass all jene westliche Staaten, die die ukrainischen Truppen dabei unterstützen, das dann als russisch definierte Gebiet besetzt zu halten, direkte Beteiligte werden. Und dass alle Handlungen, die darauf abzielen, die Besetzung dieses Gebiets zu beenden, Verteidigungshandlungen sind.“

„Herr Kinschal“ ist die Ch-47M2 Kinschal, eine Rakete mit einer Marschgeschwindigkeit von bis zu 12000 km/h, die aufgrund eben dieser als nicht abfangbar gilt.

Ja, diese Warnungen. Sie sind aus meiner Sicht zwar schon ernst zu nehmen, aber es hat in der Vergangenheit durchaus bereits Angriffe der Ukraine auf russisches Territorium gegeben, bei denen Sach- und Personenschäden auftraten, es wohl auch Todesopfer gab, soweit ich mich erinnere. Das war im Sinne der von Henn wiedergegebenen Warnungen eine Übertretung roter Linien, ohne dass dafür „Herr Kinschal“ auch nur Kiew „besucht“ hätte. Ich nehme an, Moskau wollte sich ersparen, ein paar Regierungsgebäude in Schutt und Asche zu legen, die ukrainische Kommandostruktur damit jedoch nicht lahmgelegt zu haben, denn wie kurz auch die Warnzeiten bei einer solchen Rakete sein mögen: Wenn sie keinen nuklearen Gefechtskopf trägt, genügt eine Minute, um einen Keller zu erreichen, den sie nicht zerstören kann. Und „gewollt, aber nicht gekonnt“ wäre im Zusammenhang mit einer solchen Superwaffe keine wirklich befriedigende Schlagzeile für die Russen.

Auch bei anderen „roten Linien“ hat sich gezeigt, dass die Russen ihr Überschreiten durch die NATO-dirigierten Kräfte letztlich toleriert haben. Hier ebenfalls: „Das so ersehnte LNG wird in Tankern transportiert, die, sollte Russland nach Abschluss der jetzt angekündigten Schritte zu dem Schluss kommen, die EU als Kriegsbeteiligte zu werten, ein legitimes militärisches Ziel darstellen.“ Das mag schon sein, aber Putin und Lawrow haben die EU bereits als Kriegsbeteiligte gewertet. Sogar der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat ja große Vorbehalte gegenüber der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und der Ausbildung von Ukrainern an westlichen Systemen im Hinblick auf die Frage geäußert, ob Deutschland dadurch zur Kriegspartei würde. Genauso wissen die Russen aber, dass Angriffe auf NATO-Länder oder deren Eigentum einen erheblichen Eskalationsschritt darstellen. Sie mögen sich im Recht fühlen, diesen Schritt zu tun, aber sie sind klug genug zu wissen, dass er nicht unbeantwortet bleiben wird, und welcher Art diese Antwort sein wird, ist schwer vorauszusehen.

Interessant ein Hinweis ziemlich am Ende ihres Artikels: „Das chinesische Signal ist die Ergänzung zu der Tatsache, dass der gestrige Anruf Macrons in Moskau nicht mehr angenommen wurde.“ Sie deutet diese Nachricht so, dass künftig keine Telefondiplomatie mit Moskau mehr stattfinden werde, stattdessen alles auf offener Bühne kommuniziert werden müsse. Nun, wir werden sehen. Mich würde es wundern, wenn Lawrow sich derart kastrieren ließe.

Dieser Beitrag wurde unter Politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar