Zu Stimmen aus Russland (1)


Ich lese oft RT-DE, also Russia today auf Deutsch. Außerdem bin ich oft auf der Seite https://anti-spiegel.ru von Thomas Röper, der von St. Petersburg aus — in letzter Zeit auch einige Male live aus dem Donbass — abwechselnd seine Sicht oder die russischer Medien auf die Welt darlegt, insbesondere auf den Westen. Seine Übersetzungen sind für mich eine wertvolle Quelle, da ich sie für authentisch halte, auch wenn ich sowohl seine persönlichen Ansichten als auch die der Journalisten, deren Texte er übersetzt, nicht immer teile. Gestern fand ich zum Beispiel diesen Artikel, der im Wesentlichen eine Übersetzung darstellt:

https://www.anti-spiegel.ru/2022/das-russische-fernsehen-ueber-die-kosten-der-energiewende-und-den-toedlichen-winter/?doing_wp_cron=1661182504.8538589477539062500000

Der Originalbericht war zwar verlinkt, aber für mich nicht erreichbar:

https://vesti7.ru/video/2463941/episode/21-08-2022/

Der Korrespondent schreibt (über Nordstream 1) und zitiert dabei Gazprom:

Ab dem 31. August wird der letzte Gaskompressor für drei Tage zur planmäßigen Wartung abgeschaltet: „Gemäß der technischen Dokumentation von Siemens muss das Aggregat alle 1.000 Stunden gewartet werden, was Folgendes umfasst: Inspektion des Gehäuses auf Risse, Löcher, Verformungen, Brandflecken und Reinigung des Gehäuses; Inspektion der Ölversorgungs-, Luft- und Verbrennungsprodukt-Entlüftungssysteme auf Lecks, Prüfung der Verbindungen und Beseitigung von Leckageursachen; Überprüfung der Funktion von Sicherheitsventilen und der Einstellung des Luftstromkontrollsystems“, heißt es in der Erklärung von Gazprom.

Das fand ich schon irgendwie seltsam, altmodisch, um genauer zu sein. Ich meine, alle 1000 Stunden eine Abschaltung für 72 Stunden — das ist schon eine veritable reguläre Ausfallrate. Sicher, diese Aggregate leisten harte Arbeit. Da kann schon mal was verschleißen oder gar kaputtgehen. Aber angesichts dessen, was da geprüft wird, fragt man sich, ob die Prüfverfahren auf dem jüngsten technischen Stand sind. Erstens können visuelle Prüfungen des Gehäuses auch während des Betriebes vorgenommen werden, auch Lecks kann man erkennen, bei Flüssigkeiten in der Wanne, Gasaustritte sind durch einen Druckanstieg in gekapselten Systemen erkennbar. Verschleißerscheinungen an Lagern schließlich sind akustisch erkennbar, und wenn Menschen dazu nicht in der Lage sind, dann sollte eine automatisch rund um die Uhr durchgeführte Spektralanalyse der Rotationsgeräusche Klarheit verschaffen oder zumindest Verdachtsmomente von unbedenklichem und daher nicht zu unterbrechendem Weiterbetrieb scheiden.

Aber ich zweifle nicht die Wartungsvorschriften an; die werden von Gazprom sicherlich korrekt wiedergegeben worden sein. Ich frage mich, aus welcher Zeit sie stammen und wie sie für Aggregate aussehen, die aktuell produziert werden. Ein Vergleich mit den angeblich in Russland hergestellten Pumpen für Nordstream 2 wäre interessant gewesen.

Dann geht’s wieder um die westlichen Sanktionen gegen Russland und deren Auswirkungen (sowie um die des vor nicht allzu langer Zeit dem Spiel spekulativer Märkte überlassenen Gashandels) auf die Preise. Aber nicht nur diese Märkte spekulieren, sondern auch die Journalisten. Da hat der gute Mann (oder war’s eine Frau?) tief in seine Kaffeetasse geschaut und dort gelesen, dass sich der Anteil der (deutschen) Bürger, die mit Scholz‘ Politik unzufrieden sind, im Herbst um 44 Prozentpunkte erhöhen könnte. Schade, dass ich den Originalartikel nicht sehen kann; da war bestimmt ein schönes Foto von einer Kristallkugel abgebildet. Na ja. Es gehört nicht viel Prognosekraft dazu zu erahnen, dass in dem Maße, in dem die Zimmertemperaturen ungemütlich werden, auch die Zufriedenheit in der Bevölkerung abnimmt. Von der Tendenz her hat der Korrespondent sicherlich Recht, aber wie ist er ausgerechnet auf 44 Prozent gekommen?

Dann hat er eine Quelle gefunden, die so richtig schön zum Gruseln war: The Hill. Ich habe mal davon gehört. In der Übersetzung ist kein Link angegeben. Es heißt:

Das amerikanische The Hill ist in diesem Punkt geradezu pessimistisch: „Das Ergebnis von Europas eigenem Energieexperiment ist ein tödlicher Winter. Eine Kombination aus utopischen Klimainitiativen, Inflation, sinkender Produktion fossiler Brennstoffe in den USA und der mangelnden Bereitschaft, russisches Öl oder Erdgas zu kaufen, könnte in diesem Winter mehrere hunderttausend Menschen auf dem gesamten Kontinent das Leben kosten. Die Versuche, konventionelle Energie durch grüne Quellen zu ersetzen, haben sich als katastrophal erwiesen. Deutschland zum Beispiel hat im Rahmen seiner eigenen Version des Green New Deal 150 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien ausgegeben, nur um mit den höchsten Energiepreisen der Welt konfrontiert zu werden.“

Na, da bin ich ja mal gespannt. Wie viele Tote hat eigentlich der Winter 1946/47 in Deutschland gefordert? Die Wikipedia sagt, es seien mehrere Hunderttausend gewesen. Aber das war ein arktischer Winter und nicht so ein Tauwetter, wie es uns das 21. Jahrhundert fast alljährlich liefert, es gab keine Lebensmittelvorräte, und der Zustand der unzerstört gebliebenen Bausubstenz dürfte um ein Vielfaches schlechter gewesen sein als heute. Ach ja, und russisches Öl und Gas gab’s natürlich auch noch nicht. Aber The Hill macht ja keine Prognose für Deutschland, sondern für den gesamten Kontinent. Großbritannien wird sicherlich auch noch sein Scherflein beitragen. Wir werden es erleben.

Aber vielleicht kann der Alarmismus von The Hill ja positive Aktivierungen bewirken, welche auch immer das sein mögen. Sodann — da zitiert der russische Schreiber seine amerikanischen Kollegen, von denen er sich ja später immer noch distanzieren kann, wenn’s nicht passen sollte — zieht das Blatt über „utopische Klimainitiativen“ her. Ganz sicher existieren in Berlin einige nicht utopische, sondern illusionäre Vorstellungen davon, wie man in allernächster Zeit im Hau-Ruck-Verfahren in Deutschland alle Energie aus erneuerbaren Quellen generieren kann, ohne dafür wieder polnische und französische Areale erobern zu müssen, diesmal für die Aufstellung von Solarpanelen und Windrädern. Nichts wächst ohne qualifizierte Arbeitskräfte — die von den Vorgängerregierungen unter Altmeier und Merkel in die Wüste geschickt wurden — und nichts entsteht von heute auf morgen. Aber utopische Klimainitiativen sind mir doch allemal lieber als stoisches Weiter-so!-Bohren nach Gas, Kohle und Öl oder dystopische Klimaszenarien. Merke: Utopien sind positiv besetzt, Dystopien negativ. Utopien sind keine Pläne für morgen oder nächstes Jahr, aber wenn man keine Vorstellung davon hat, wie die Dinge in zehn oder 20 Jahren laufen sollen, torkelt man ziellos durch die Zeit. Die Chinesen fahren mit langfristigen Planungen eigentlich gar nicht so schlecht, finde ich, und ihre Vorhaben klingen in meinen ganz privaten Ohren zuweilen auch recht utopisch, also unerreichbar mit heutigen Mitteln. Aber für übermorgen stehen ja nach einem Tag bereits die Methoden von morgen zur Verfügung.

Interessant finde ich auch, dass russische Quellen zwar betonen, dass China Rekordmengen an Gas und Öl aus Russland bezieht, nicht jedoch, dass sie von Jahr zu Jahr auch beträchtlich wachsende Ausbauzahlen bei den Erneuerbaren vorzuweisen haben. Und sie werden dafür auch nicht beschimpft oder als Utopisten oder Idioten bezeichnet. Es kommt einfach nicht vor. Und dies, obwohl die russische Politik gegenüber den Chinesen bzw. über diese aktuell uneingeschränkt positive Verlautbarungen produziert.

The Hill schreibt dann noch, Deutschland habe „im Rahmen seiner eigenen Version des Green New Deal 150 Milliarden Dollar für erneuerbare Energien ausgegeben.“ Die Quelle für diesen Betrag hätte ich ja ganz gerne mal gesehen, aber über die letzten 22 Jahre mag da im Rahmen des EEG einiges zusammengekommen sein. Immerhin existiert ja auch eine installierte Leistung von etwa 100 GW. Die hätte es im fossilen Bereich kaum billiger gegeben. Klar ist die bei Wind und Sonne nicht rund um die Uhr abrufbar, sondern nur – so viel gehört zur Wahrheit – während 10…20 Prozent des Jahres, bei Sonne eher an der Untergrenze und überwiegend im Sommer, bei Wind eher an der Obergrenze und überwiegend im Winter – was, nebenbei bemerkt, eine ganz praktische Verteilung ist.

Diese „katastrophale“ Maßnahme hat dazu geführt, dass immerhin die knappe Hälfte des deutschen Stroms nicht von Putin abhängig ist; mehr noch, inzwischen ist Frankreichs Atomstromwirtschaft zunehmend auf unseren Ökomist angewiesen. Freilich würden die Russen sagen, dass sie sich bei Atomkraft anders anstellen als die Franzosen, aber immerhin haben die Franzosen noch kein Tschernobyl vorzuweisen, und das war nicht das einzige russische Atomdesaster.

Auch ist unser Ökostrom bei Weitem nicht die Hälfte des deutschen Primärenergiebedarfs, denn es gibt ja noch die chemische Verarbeitung der fossilen Rohstoffe, den Wärme- und Transportsektor, die private Mobilität eingeschlossen. Er ist keine Lösung für den deutschen Winter 2022/23, und er wird auch keine für 2023/24 sein. Daher kann uns eine wirtschaftliche Katastrophe sondergleichen überrollen, über die viele Russen berechtigterweise den Kopf schütteln werden, vielleicht sogar lachen. Aber mit Hill und eben auch mit vielen russischen Primärquellen von unsinnigen Maßnahmen im Hinblick auf den Klimawandel zu sprechen wäre Unfug. Unfug wäre lediglich, sich derzeit komplett darauf zu verlassen.

Das heißt, dass ich die Selbstkastration durch unvermittelten Verzicht auf fossile Rohstoffe von praktisch heute auf nächstes Jahr nicht für eine sinnvolle Maßnahme halte. Sie ist ökonomisch nicht sinnvoll, weil jede ruckartige Änderung für planvolles Wirtschaften Gift ist; sie ist sozial nicht sinnvoll, weil es die Ärmsten trifft, also diejenigen, die sich Verschwendung und damit klimaschädliche Emissionen gar nicht in dem Maße leisten können wie die oberen zehn Millionen, und weil Konflikte oder gar Chaos in einem Land das Gegenteil von Frieden sind; und sie ist im Hinblick auf den Klimaschutz nicht sinnvoll, weil ja eben nicht geplant wird, auf fossile Energieträger zu verzichten, sondern auf russische. Und amerikanisches Fracking-Gas, wenn es denn im Winter überhaupt zu haben sein wird, ist nicht nur nicht klimafreundlicher als russisches, sondern sogar dreckiger.

Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass neben allem Unverständnis für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gravierende methodische Fehler im Wirtschaftsministerium (vom Außenministerium will ich gar nicht erst anfangen) bei Habeck auch der folgende Gedanke eine Rolle spielt: Freiwillig wird der deutsche Michel — gemeint ist die breite Mehrheit — nie auf irgendwas verzichten. Dann braucht es eben transatlantische Wucht. Das ist dann zwar gegen alle guten Regeln, aber wenn die Erde brennt — und das führt sie uns ja jedes Jahr an neuen, immer größeren und immer heißeren Plätzen vor —, gelten eh keine Regeln mehr. Das macht seine Vorgehensweise zwar nicht korrekt, aber wenn du die Menschen ändern willst (also irgendjemand Habecks Entscheidungen), musst du erst mal versuchen, sie zu verstehen. Sonst musst du gegen sie kämpfen und dann an ihrer Stelle agieren, was harte Konflikte bedeutet, aber auch du selbst wirst Fehler machen.

Röpers Übersetzung ist noch länger, aber darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein.

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